Ist man von Windhoek auf der Hauptroute nach Süden unterwegs, kann es gut sein, dass man aus dem Augenwinkel plötzlich eine Bewegung wahrnimmt. Hat man richtig gesehen? Man bremst ab und schaut zu der Schotterstraße hinüber, die parallel zur geteerten Fernstraße verläuft. Doch, wirklich, es stimmt: da saust – im Eselstempo – eine individuell gestaltete Karre entlang. Das Eselsgespann bringt die Mitfahrenden zu einem Besuch bei den Nachbarn, befindet sich auf dem Heimweg oder befördert Waren. Bei der Erkundung der ländlichen Gegenden werden Ihnen noch viele farbenfrohe Eselskarren begegnen. Willkommen in Namibia!
Die zahlreichen Schotterstraßen, die sich durch den ländlichen Raum ziehen, sind die Lebensadern dieses weiten Landes. Eselskarren, über Jahrhunderte hinweg bewährt, sind erschwinglich und sie sind das ideale Transportmittel auf diesen Straßen. Per Eselskarre werden größere Mengen grundlegender Güter wie Brennholz und Wasser herbeigeschafft, Kinder zur Schule gebracht, Menschen von einem Dorf zum anderen befördert oder zu einer Stelle an einer Hauptverkehrsroute, von der es mit dem Auto weitergeht.
In Namibia sind Eselskarren weit verbreitet. Ob Norden oder Süden, Westen oder Osten: im geruhsamen Tempo des ländlichen Raums steuern die Grautier-Gespanne mit klappernden Hufen ihre Ziele an. Angesichts stetig steigender Benzinpreise und immer teurerer Autos wird dieses nicht motorisierte Transportmittel umso mehr geschätzt. Der Stolz des Besitzers findet in den Namen Ausdruck, die den zweirädrigen „Geländewagen“ zieren. Häufig sind es die Namen von Automarken, wie Toyota, Ford, Opel und selbst Mercedes Benz. Bis zu sechs PS, vielmehr ES, bringen diese Gefährte voran – manchmal werden tatsächlich Pferde eingespannt, oder Maultiere. Gelegentlich gesellen sich zu den anspruchsvollen Namen humorvolle Aussagen wie „bring mich heim“, „Schwerenöter“, „Barjero – eine Lebensart“ oder „Kapitän der Landstraße“. Besitzerstolz äußert sich zudem in Autonummernschildern, die auf der Eselskarre prangen. Und die Originalität macht auch bei den Namen der Esel nicht Halt. Sie hören auf Vaaljapie (eine alte Traktormarke) ebenso wie auf Sondernaam (namenlos). Ursprünglich wurden Eselskarren auf Bestellung angefertigt, jetzt sind sie ein Beispiel der innovativen Wiederverwertung. Viele Teile werden vom Schrottplatz geholt, so auch die Reifen – die mit Plastiktüten repariert werden, wenn ihnen die Luft ausgeht – oder Rückstrahler, damit die Karre im Dunkeln bemerkt wird.
Wo hat die Geschichte der Eselskarre begonnen? Eine berechtigte Frage. Zuerst kam natürlich der Esel. Im südlichen Afrika waren Esel, ebenso wie Pferde, ursprünglich nicht beheimatet. Berichten zufolge traf die erste Schiffsladung von Maultieren und Eseln 1656 in Kapstadt ein. Mit den ersten Siedlern, die weiter nach Norden zogen und ab dem späten 18. Jahrhundert den Gariep (Oranje) überquerten, gelangten Esel mit der Zeit nach Süd-Namibia. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden Esel und Pferde dann in größerer Zahl in die damalige deutsche Kolonie eingeführt, um Maultiere für militärische Zwecke und später für den Einsatz auf den Diamantenfeldern zu züchten.
In den Depressionsjahren nach dem Ersten Weltkrieg, als afrikaanssprachige Südafrikaner in Scharen ins Land strömten, begann der Ochsenwagen als wichtigstes Transportmittel den vergleichsweise flotten „Wägelchen“ Platz zu machen. Die hölzernen Eselskarren hatten zwei oder vier Räder. Später waren Autos auf dem Vormarsch, und schon damals wurden alte Autoteile gerne für die Eselskarre verwendet, insbesondere Kofferraum, Hinterachse und Räder.
Von den zwanziger bis zu den vierziger Jahren waren Eselskarren das Haupttransportmittel auf den Farmen. Als in den Vierzigern die Blütezeit der Karakulschafzucht begann, konnten sich viele Farmer ihr erstes Auto leisten. Die Eselskarren wurden an die Arbeiter weitergegeben und fanden ihren festen Platz bei der ländlichen Bevölkerung. Mitte des 20. Jahrhunderts waren sie deren beliebtestes Transportmittel und ein Lebensstil geworden.
Zwar möchte man meinen, dass Minibus Taxis, Busse und Bakkies (Autos mit Ladefläche) die Eselskarre verdrängen, doch weit gefehlt. Die Grautier-Gespanne haben in vielen Teilen von Namibia weiterhin die Vorherrschaft. In den Regionen des mittleren Nordens wird mit Eseln gepflügt und mit der Eselskarre werden große Wasserbehälter und Holz transportiert. Die Himba im Nordwesten nutzen Esel als Packtiere, und die Damara und Nama in den westlichen und südlichen Landesteilen haben sich die Kultur der Eselskarre von ganzem Herzen zu eigen gemacht.
Der häufig unerwartete Anblick einer Eselskarre auf der Landstraße fasziniert und ist ein Inbegriff des Reisens in Namibia, insbesondere auf den abseits gelegenen Sträßchen im Hinterland. Gerade wenn Sie meinen, Ihr Fahrzeug sei das einzige weit und breit, taucht am Horizont eine Eselskarre auf.
Vermindern Sie dann bitte die Geschwindigkeit, um das Gespann nicht in eine Staubfahne zu hüllen, und winken Sie im Vorbeifahren. Sie können sicher sein, dass lächelnd zurückgewinkt wird. Oder nehmen Sie sich ruhig die Zeit, anzuhalten und ein kleines Gespräch mit den freundlichen Menschen von Namibia anzuknüpfen.
Esel...
Der Esel stammt vom Afrikanischen Wildesel ab und wurde vor rund 5000 Jahren in Ägypten oder Mesopotamien domestiziert. Von dort verbreitete er sich rund um die Welt und diente dem Menschen als Pack- und Zugtier. Nach Südafrika kam er mit den ersten holländischen Siedlern, als das Kap der Guten Hoffnung Mitte des 17. Jahrhunderts eine Versorgungsstation am Seeweg nach Osten wurde. Die zähen Einhufer aus der Familie der Pferde wurden nicht nur als Pack- und Lasttiere eingeführt, sondern häufig auch für die Maultierzucht (Kreuzung zwischen Pferdestute und Eselhengst). Wegen ihrer Stärke und den kräftigeren Hufen samt ihrer Trittfestigkeit waren Maultiere gefragter als Esel. In den ländlichen Gegenden von Namibia sind Esel alltäglich und sie sind auch bei einigen Lodges im Einsatz: beispielsweise befördern sie im Gondwana Canyon Village das Gepäck der Gäste zu den Unterkünften und verleihen der Anlage damit noch mehr Lokalkolorit.
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