Ankunft der Maschine aus Frankfurt in Windhoek. Die Passagiere betreten nach kurzer Zeit die Ankunftshalle. Einer älteren Dame mit Rucksack gleitet ein Buch aus der Anoraktasche und fällt zu Boden. Sie bemerkt es nicht. Ein junger Mann hebt den Namibia-Reiseführer auf. Er tippt der Touristin auf die Schulter.
„Hallo, Sie haben das hier verloren“, sagte er in akzentfreiem Deutsch. Die ältere Dame schaut verdutzt hoch. „Sie sprechen Deutsch?“ Sie will noch etwas hinzufügen, zögert. „Dankeschön“, sagt sie dann nur.
„Sie meinen sicher, obwohl ich schwarz bin?“ fragt er. Sie ist verlegen, weiß nicht, was sie erwidern soll. „Also, erst mal willkommen in Namibia und genießen Sie ihren Aufenthalt“, sagt der etwa 35-Jährige und will sich schon umdrehen. „Warten Sie, waren Sie vielleicht als Kind in der DDR? Ich hab‘ neulich eine Fernseh-Dokumentation über namibische Kinder im ehemaligen Osten Deutschlands gesehen“, sagt sie plötzlich lebhaft. Amu*) ist überrascht. Endlich mal jemand, dem er nicht die ganze „Story“ der sogenannten DDR-Kinder von A bis Z erzählen muss. „Ja, stimmt“, sagt er.
Sie lädt ihn zu einem Kaffee im Flughafenrestaurant ein. Dass sie ausgerechnet gleich bei Ankunft ihres ersten Namibiabesuches über das Thema Schwarz-Weiß gestolpert ist, möchte die Touristin ausbügeln. Beide wissen es, unterhalten sich aber über den TV-Film. „Das war mal ein Film, der unsere Geschichte so einigermaßen korrekt wiedergegeben hat“, erzählt Amu. „Es wurde schon so viel über uns berichtet, gefilmt und geschrieben – zuviel, 2016 sogar ein Theaterstück. Für mich ist dieser Lebensabschnitt abgeschlossen“, sagt er und verabschiedet sich. Er muss seinen Flug nach Johannesburg erwischen, Amu ist Investmentbanker in Windhoek.
Kolonialzeit und Freiheitskampf
Namibia war von 1884 bis 1915 eine deutsche Kolonie, ab 1919 Mandatsgebiet der britischen Krone, verwaltet von Südafrika. Die Regierung in Pretoria führte 1948 noch strengere getrennte Entwicklungsrichtlinien, die Apartheid, ein. Das galt auch für Namibia, damals noch Südwestafrika genannt. In den fünfziger und sechziger Jahren erfasste die afrikanische Unabhängigkeitsbewegung Namibia. Die South West Africa Peoples Organisation (SWAPO) wurde im April 1960 gegründet und etablierte sich als prominenteste Freiheitsbewegung. Hunderte Namibier gingen ins Exil, 1966 begann der bewaffnete Freiheitskampf. Tausende Namibier gelangten später nach Angola und Sambia. Für die Exilanten wurden Flüchtlingslager eingerichtet, unterstützt aus dem Ausland.
Cassinga
Am 4. Mai 1978 griff die südafrikanische Armee ein großes Lager mit namibischen Exilanten bei Cassinga in Südangola an. Mehr als 600 Menschen kamen dabei ums Leben. Viele namibische Kinder wurden Halb- und Vollwaisen. SWAPO-Präsident Sam Nujoma bat solidarische Nationen um Unterstützung. Kuba und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) waren bereit, viele dieser Kinder aufzunehmen. Im Dezember 1979 kamen die ersten 80 namibischen Kinder in Ost-Berlin an, im Laufe der nächsten 10 Jahre wurden es knapp 430 Kinder.
Sie wohnten in einem ehemaligen Jagdschloss in Bellin und gingen in Zehna zur Schule. Später besuchten sie in Staßfurt die Schule der Freundschaft. Der allgemeine DDR-Lehrplan wurde etwas abgeändert. Die Kinder sollten den Bezug zu ihrem Heimatland nicht verlieren, sie sollten ja die zukünftige Elite Namibias nach der Unabhängigkeit bilden.
„Wir hatten einige Erzieher und Erzieherinnen aus Namibia, aber unsere Familie war eigentlich unsere Gruppe“, erzählt Amu. Kontakte zu Vater oder Mutter in Afrika gab es wenig. „Wir lebten recht abgeschieden von der DDR-Bevölkerung, uns wurde immer wieder gesagt, dass SWAPO für unsere Freiheit kämpft. Wir lernten marschieren und man brachte uns Freiheitslieder bei. “
Rasante Entwicklungen
Am 22. Dezember 1988 einigten sich die Vereinten Nationen mit Südafrikas Apartheidsregierung auf Namibias Unabhängigkeit. Ein Übergangsjahr mit präsenten UN-Friedenstruppen sollte vom 1. April 1989 bis März 1990 gelten.
Im November 1989 fiel die Berliner Mauer: Die marode DDR-Regierung gab überraschend freien Reiseverkehr in den Westen für ihre Bürger bekannt. Namibia wurde am 21. März 1990 unabhängig. Die DDR hörte mit der deutschen Einheit am 4. Oktober 1990 auf zu existieren.
Wohin mit den Kindern?
Auch die namibischen Kinder in Staßfurt und Bellin spürten den Wind der Veränderung. Es kam viel Besuch von SWAPO-Kadern aus Afrika. „Uns wurde gesagt, dass wir trotz bevorstehender Unabhängigkeit Namibias unser Schuljahr in Deutschland abschließen könnten, andere ihre Lehre und Ausbildung, bevor wir heimkehren würden“, erinnert sich Lissy*).
Es kam anders. Im August 1990 hieß es plötzlich „Ab nach Hause!“. Die Kinder mussten packen und binnen weniger Tage abreisen. Die DDR-Regierung befand sich in der Auflösung, Gelder für die namibischen Kinder standen kaum noch zur Verfügung. Die Bundesrepublik Deutschland sah sich scheinbar außerstande, Unterstützung zu leisten. Es hieß auch, die neue unabhängige Regierung in Windhoek wolle, dass die Kinder schnellstens zurückkehren. Bis heute gibt es dazu unterschiedliche Auffassungen.
Der erste Flug traf am 26. August 1990 in Windhoek ein. Insgesamt drei Flugzeuge brachten rund 430 Kinder und knapp 30 namibische Erzieher und Erzieherinnen in ihre Heimat. Viele Kinder hatten über 10 Jahre in Deutschland verbracht, sprachen perfekt Deutsch. Andere hatten Namibia noch nie gesehen, waren im Exil geboren und als Kleinkind nach Bellin gekommen, einige sogar erst 1989.
Zwischen zwei Welten
In Namibia war alles anders als in Deutschland. Die Kinder mussten als Rückkehrer registriert werden. Eltern und Verwandte holten sie dort ab. Man war sich fremd geworden, die Kinder sprachen kein perfektes Oshiwambo, ihre Muttersprache. Deutsch war ihnen geläufiger. Dutzende Kinder wurden von Verwandten sofort in die ländlichen Heimatdörfer im Norden gebracht, wo sie Hirse stampfen und Holz sammeln mussten. Die Größeren wurden in Windhoek vorläufig in einem Schülerheim untergebracht, sie sollten baldigst wieder zur Schule gehen.
Private Unterstützung
Durch private Initiativen entstanden Kontakte zwischen den „DDR-Kindern“, wie sie nun genannt wurden, und deutschsprachigen Familien. Es wurden Pflegeeltern gesucht, die diese Kinder und Jugendlichen an Wochenenden und in den Schulferien aufnahmen. Es wurden auch Gönner gefunden, die für Schulgelder und Schulbücher aufkamen.
„Das aufeinander Zugehen war nicht ganz einfach“, erinnert sich eine Farmersfrau. „Wir wollten den Kindern Nestwärme geben, die aber sagten manchmal, sie kannten nur die anderen DDR-Kinder als Familie. Auch unsere eigenen Kinder mussten sich an die Wochenend- und Ferienaufenthalte der DDR-Kinder bei uns gewöhnen.“
Baum und Borke
Der Kulturwechsel war nicht einfach. Die „DDR-Kinder“ wurden von der einheimischen Bevölkerung als europäisierte „weiße Schwarze“ oder einfach „Deutsche“ betrachtet, besonders von ihrer eigenen Sprachgruppe, den Owambos. Das mit der „Elite“ war auch vorbei, das unabhängige Namibia hatte dringlichere Aufgaben zu bewältigen.
Die meisten ehemaligen DDR-Kinder mussten ihren eigenen Weg finden, sich – oft privat unterstützt – um Ausbildung, Praktika und Stipendien kümmern. Viele versuchten das in Deutschland, einige sind dort geblieben. „Ich musste mich da neu eingewöhnen“, sagt Lissy. „Die alte DDR gab es nicht mehr, der Westen Deutschlands war Neuland. Es war innerlich ein weiter Weg für mich vom Flüchtlingslager in Angola über Bellin zu DDR-Zeiten ins neue unabhängige Namibia und dann in die Bundesrepublik.“ Sie besucht Namibia gelegentlich.
Trotz mancher Widrigkeiten auf ihrem Lebensweg sind die ehemaligen DDR-Kinder heute selbstbewusste Namibier, zumeist mit abgeschlossener Ausbildung, und stehen im Berufsleben. Manche arbeiten für die Regierung. Viele haben eigene Familien gegründet.
Interviews über ihre Zeit in der DDR wollen sie kaum noch geben. „Das liegt alles hinter uns, wir schauen nach vorn“, sagen die einen. Andere treffen sich öfter, da wird auch über früher in Staßfurt geredet. Der Zusammenhalt von damals ist immer noch spürbar. „Irgendwann ist mal Schluss mit diesem Kapitel, doch ist es Teil von uns“, fasst einer von ihnen zusammen.
Studien und Forschung
Deutsche Medien und Akademiker haben seit 1989 die DDR-Kinder immer wieder thematisiert. Im April 2017 bereisten erstmals auch namibische Medienvertreter Staßfurt und Bellin, um das Thema aufzuarbeiten. Abgesehen von Medienberichten sind zahlreiche Studien und Abhandlungen veröffentlicht worden, auch im Rahmen der Aufarbeitung der DDR-Geschichte.
Ein DDR-Kind, Lucia Engombe, hat 2004 seine Erlebnisse in dem Buch „Kind Nr. 95“ veröffentlicht. 2014 erschien die englische Ausgabe. Seit 2015 strömen vermehrt Migranten nach Europa, auch nach Deutschland. Einige evangelische Kirchengemeinden hatten Engombe daher eingeladen, über ihre Migrations-Odyssee zu diskutieren. Der ehemalige Schulleiter in Staßfurt, Jürgen Krause, hat im Rahmen interkultureller Migrationsprozesse eine Dissertation über diese Kinder abgeschlossen. Er veröffentlichte 2017 einen Bildband mit Fotos des Zeitabschnitts 1979 bis 1990, als die namibischen Kinder sich dort aufhielten.
Ganz aktuell arbeitet Diplom-Pädagogin Inga Scheumann von der Hochschule Emden-Leer an ihrer Dissertation über Zugehörigkeitskonzepte der „SWAPO-DDR-Kinder von Namibia“. Sie will die Zugehörigkeitskonzepte der Untersuchungsgruppe vor dem Hintergrund der spezifischen Sozialisations- und Migrationserfahrungen rekonstruieren. „Somit soll ein Beitrag zur Migrations- und Sozialisationsforschung geleistet werden“, sagt sie. „Diese jungen Menschen sind damals sozusagen unfreiwillig mit mindestens zwei verschiedenen Lebenswelten konfrontiert worden, sie mussten ihre eigenen Zugehörigkeitskonzepte entwickeln“, sagt Scheumann. Hinzu kommt, dass sie sich nach der Rückkehr in die Heimat ihrer Eltern in einem neuem Staat, dem unabhängigen Namibia, zurechtfinden mussten. Autobiografisch-narrative Interviews sind ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit.
Die DDR-Zeit hat die jungen Menschen geprägt. „Manche fühlen sich einem Land zugehörig, andere einer Kultur und wiederum andere einer Sprachgruppe. Eine Person formulierte es im Interview folgendermaßen: „Ich kam dann ich ein Familienhaus in Katutura, konnte ein bisschen Englisch, Deutsch jedoch fließend sprechen. Die Muttersprache, meine eigene Oshiwambo-Sprache, konnte ich nicht. Also da war jedenfalls ein Kommunikationsfehler. Ich konnte mich mit den Leuten nicht verständigen.“
„Sie haben ihren jeweils eigenen Weg gefunden“, sagt Scheumann.
Brigitte Weidlich
(*) Name geändert.
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