Die Tourismusindustrie in Namibia hat in der vergangenen Woche eine Sensibilisierungskampagne gestartet, die breite Unterstützung fand. Dieser Wirtschaftszweig steht am Rande des Zusammenbruchs, 120.000 Arbeitsplätze sind in Gefahr.
Der Tourismussektor bittet die Regierung um konstruktive Gespräche, um Touristen die Einreise nach Namibia unter Einhaltung von Covid-19-Protokollen weiter zu erleichtern und zahlreiche Familien vor dem Verhungern zu bewahren. Das gilt nicht nur für Beschäftigte in der Reiseindustrie, sondern auch für Handwerker, Künstler, ganze Gemeinden und Naturschutzinitiativen, die indirekt betroffen sind.
In den letzten Jahren war der Tourismussektor der am schnellsten wachsende Wirtschaftszweig des Landes, der einen beträchtlichen direkten und indirekten Beitrag zum BIP (mehr als 10 %) leistet und gleichzeitig ein bedeutender Arbeitgeber ist (ca. 15 % der Gesamtbeschäftigung). Vor allem in den ländlichen Gebieten des Landes, die besonders von der hohen Arbeitslosigkeit im Land betroffen sind, hat der Tourismus in den vergangenen Jahren maßgeblich zur Verbesserung der Lebensgrundlagen beigetragen.
Bereits am 8. Oktober hat der Geschäftsführer eines der größten Tourismusunternehmen des Landes, Gys Joubert von Gondwana Collection Namibia, seine Bedenken über die derzeitige weltweite Situation in einem offenen Brief an den Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, in Worte gefasst. Hier ist die deutsche Übersetzung, die Veröffentlichung wurde vom Verfasser genehmigt.
Inke Stoldt
Das Vaterunser
Veröffentlicht am 9. Oktober 2020 auf LinkedIn
(Englischer Originaltext unter dem Titel „The Lord’s Prayer“)
Gys Joubert, Geschäftsführender Direktor, Gondwana Collection Namibia
Ein offener Brief an Antonio Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen.
Sehr geehrter Herr Guterres
Schweren Herzens und als letztes Mittel, geboren aus tiefer Verzweiflung, sitze ich heute Abend hier, um Ihnen diesen Brief aus dem leidenden Namibia zu schreiben. Es ist spät in der Nacht; meine Frau und meine Kinder schlafen, doch mich halten die Sorgen wach.
Herr Guterres, ich bin müde und ich bin es leid, gegen Windmühlen zu kämpfen.
Erschöpft von meinem Kampf für ein großartiges namibisches Unternehmen und seine 1102 Mitarbeiter, die wir nicht nur vertreten. Nein, wir sehen uns gezwungen, aktiv für sie zu kämpfen, denn dieser Kampf repräsentiert Hunderttausende von Namibiern; Menschen, die unter dem leiden, was wir ihnen antun.
Ihre Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit Sitz in Genf, Schweiz, mit ihrer Perspektive der entwickelten Welt zerstört mit ihrem Einheitsansatz das Leben in meinem Heimatland.
Es ist klar, dass die entwickelte Welt nicht nur den Großteil des Reichtums auf diesem Planeten sein eigen nennt, sondern genau deshalb auch die Perspektive bestimmen kann. Unsere Welt und unsere Sicht hier in Namibia sind eigentlich unerheblich.
Man könnte meinen, dass ich zu den Menschen gehöre, die Covid-19 lediglich für eine "leichte Grippe" halten. Das bin ich aber nicht. Wir verstehen, dass die Pandemie real ist.
In Namibia tragen wir unsere Masken, wir waschen unsere Hände. Soziale Distanzierung ist in überfüllten Hütten etwas schwieriger, aber nichts davon ist politisiert. Wir können es uns schlicht und ergreifend nicht leisten, darüber zu streiten.
Lassen Sie mich erklären, wie die Situation in Namibia aussieht:
Zu Beginn der Pandemie hat unsere Regierung schnell und strikt reagiert und einen sofortigen Lockdown angeordnet. Zu diesem Zeitpunkt eine angemessene Maßnahme, denn niemand wusste genau, mit was für einer Krankheit wir es zu tun haben, und die Prognosen der WHO für Afrika waren düster. In den vergangenen Monaten mit meist strengen Covid-19 Protokollen gab es zwar immer wieder lokale Ausbrüche der Krankheit, aber die Befürchtungen in Bezug auf die Todesfälle bewahrheiteten sich nicht. Unsere Krankenhäuser wurden nie überrannt. Heute (8. Oktober 2020) haben wir in einem Land mit etwa 2,5 Millionen Einwohnern fast 107 000 Tests durchgeführt, 11 800 bestätigte Fälle, 127 Todesfälle - 99 Covid-Todesfälle und 28 Covid-bedingte Todesfälle. Die überwiegende Mehrheit der Todesfälle waren Menschen mit Vorerkrankungen.
All dies hatte direkte Kosten von mehr als 800 Millionen N$ (50 Millionen US$) zur Folge und indirekte Kosten in Höhe von Milliarden N$.
- Warum haben wir nach mehr als sieben Monaten keine Änderung in der Strategie gesehen, obwohl wir inzwischen ein besseres Bild davon haben, wie sich dieses Virus in unserer Realität verhält? Unser Durchschnittsalter in Namibia liegt bei 22 Jahren. Die WHO hat sogar zugegeben, dass sie nicht vollständig erklären kann, warum Afrika relativ gesehen weniger betroffen ist, trotzdem gab es keine Strategieänderung.
- Die 127 verlorenen Menschenleben in Namibia sind 127 zu viele, aber lassen Sie uns diese Zahl in Perspektive rücken: Mehr als 420 Namibier starben im vergangenen Jahr bei Autounfällen (2018 mehr als 700).
- Im Jahr 2019 haben wir 150 Namibier durch Tuberkulose verloren (2018: 620). Ja, Covid-19 ist für Namibier immer noch weit weniger tödlich als Tuberkulose. Und Tuberkulose ist hochinfektiös und auch für Kinder tödlich, oder nicht?
- Wir verlieren jedes Jahr Tausende von Namibiern durch Malaria, Krebs, Selbstmord und so viele andere Krankheiten.
Der Unterschied besteht darin, dass wir deswegen nicht die Zukunft unserer Kinder zerstören. Wir können uns nicht den Luxus leisten, eine kleine Minderheit auf Kosten der großen Mehrheit zu verteidigen.
Sehen Sie, Herr Guterres, in der entwickelten Welt kommen zusätzliche Schulden nur zu sehr geringen oder keinen zusätzlichen Kosten. Bei uns sieht die Realität anders aus. Die Milliarden N$, die wir uns leihen und im nächsten Jahrzehnt noch leihen müssen, um die von Corona verursachte Zerstörung zu bezahlen, sind mit sehr hohen Mehrkosten verbunden. Sie gehen einher mit den Opportunitätskosten für ein angemessenes Backsteinhäuschen für eine Familie und für grundlegende Menschenwürde. Sie gehen auf Kosten der Ausbildung eines weiteren namibischen Kindes.
Wir haben keine Möglichkeit, Geld zu drucken.
Die Ironie ist, dass all dies eine massive Kapitalflucht aus Namibia in die entwickelte Welt verursacht, der wahrscheinlich eine Welle von geschulten Fachkräften folgen wird.
Wir können uns nicht den Luxus leisten, von einem Impfstoff zu träumen. Was denken Sie, wie hoch Namibia auf der Prioritätenliste von Pharmaunternehmen rangiert? Covid-19 wird aus unserer Realität nicht so bald verschwinden; wir müssen damit leben, wahrscheinlich für die nächsten Jahre.
Dabei müssen wir uns über eines im Klaren sein. Diese Dinge sind selbst verschuldet.
Es ist nicht Covid-19, nein, es ist unsere Entscheidung, wie wir damit umgehen. Milliardenverluste der Wirtschaft, tausende Lebensgrundlagen zerstört. Zehntausende Menschen verarmen. Die kleine Steuerbasis, die für unsere Regierung zahlen muss, wird zerstört.
Sie sehen, Herr Guterres, unser Gesundheitsminister, Dr. Shangula, diktiert und zerstört unsere Zukunft streng nach den Richtlinien der WHO. Wir werden zumindest in den nächsten zehn Jahren für diese Entscheidungen bezahlen. Ich nehme an, das nächste Jahrzehnt geht auf Sie, Herr Guterres.
Wie ich sehe, testet unser Gesundheitsminister jetzt Schulkinder auf Covid-19. Ich nehme an, er testet sie auch auf TB. Ich meine, immerhin ist das Risiko, an TB zu sterben, für sie höher.
Das völlige Fehlen einer Führung auf internationaler Ebene ist ziemlich schockierend. Die Empfehlung von Schließungen und der Zerstörung von Industrien wie dem Tourismus kam schnell und ging offenbar leicht von der Hand. Doch mehr als sieben Monate später gibt es immer noch kein Protokoll für die Öffnung eben dieser Industrie. In jedem Land gibt es das gleiche Virus und doch entscheidet jeder für sich selbst auf Kosten des anderen. Es ist ein selbstverschuldeter langsamer Selbstmord der am schnellsten wachsenden internationalen Industrie. Mit etwa 50 Infektionen pro Tag von 2,5 Millionen Menschen in einem Land, das fast doppelt so groß ist wie Frankreich, ist Namibia vermutlich eines sichersten Reiseziele der Welt, dennoch stehen wir auf jeder europäischen Roten Liste.
Erschwerend kommt hinzu, dass der Tod des Tourismus mit einer Zunahme der Wilderei und der Zerstörung unserer Umwelt einhergeht, aber auch darüber spricht niemand.
Werden Sie jemals das Leiden sehen? Einer der Mitarbeiter Gondwanas kam letzte Woche zu mir und bat mich um Wellblech. Mit unseren Lohnkürzungen kann er sich seine Miete nicht mehr leisten, er muss sich eine Hütte bauen.
Ich hatte immer gehofft, Teil einer Lösung zu sein, die Menschen aus armseligen Hütten in eigene Häuser bringt. Ein Heim ist so viel mehr als nur Ziegel und Mörtel, es ist Teil der Menschenwürde. Jetzt bin ich daran beteiligt, mehr Menschen in Baracken unterzubringen. Tausende weitere werden aufgrund dieser Entscheidungen folgen, Herr Guterres.
Ich bin es leid, die Menschen in unserem Land leiden zu sehen, ich bin es leid, den Stress in ihren Augen zu sehen. Ich bin es leid, diese Menschen, die uns so sehr am Herzen liegen, an stressbedingten Krankheiten wie der Gürtelrose leiden zu sehen, um nur eine zu nennen. Es ist schlimm genug, dass sie sich Gedanken darüber machen müssen, ob sie im nächsten Monat ein Gehalt bekommen und für ihre Lieben sorgen können. Jetzt müssen sie sich auch noch mit Fragen der geistigen und körperlichen Gesundheit beschäftigen. Sie haben Besseres verdient.
Ich frage mich, ob unser Gesundheitsminister die immer größer werdende Zahl von Männern sieht, die an den Straßenecken stehen und um einen Tageslohn oder eine Mahlzeit betteln. Sieht er die Verzweiflung in ihren Augen? Vermutlich nicht. Ich stelle es mir schwierig vor, die Notlage dieser Männer vom Rücksitz eines schwarzen Mercedes aus zu erfassen, der kaum an Kreuzungen hält.
Sehen Sie, Herr Guterres, wir haben hier in Namibia eine weitere, rasch fortschreitende Pandemie, sie heißt Armut. Ich bin kein Arzt, und ich kenne ihr epidemiologisches Profil nicht, aber ich sehe ihre Auswirkungen jeden Tag. Sie raubt Hoffnung und Träume, zerstört die Würde und tötet letztendlich. Ich bezweifle, dass Sie diese Krankheit in Genf haben.
Heute habe ich zwei unserer Lieferanten besucht. Es sind arme Frauen, Miriam und Magda (siehe Foto unten), die uns seit mehr als fünfzehn Jahren Matukondjo-Puppen liefern. Wir verkaufen diese Puppen in unseren Souvenirläden auf den Gondwana Lodges, außerdem werden sie im Windhoek Craft Centre direkt an Touristen verkauft. Früher verdienten Miriam und Magda mit ihren handgefertigten Puppen mindestens 1500 N$ (100 US$) pro Monat. Außerdem erhielten sie am Ende des Jahres eine Gewinnbeteiligung, die sie für große Ausgaben wie Schulgebühren, neue Schuluniformen und Schreibwaren im Januar verwenden. Miriam sagte mir, dass sie nicht mehr schläft, weil sie nicht weiß, was sie im Januar tun wird. Ihr Einkommen aus den Puppen ist jetzt auf Null gesunken.
Miriam betreibt auch eine kleine Vorschule, die früher von 44 Kindern besucht wurde. Zur Zeit bleibt mehr als die Hälfte der Kinder dem Unterricht fern, und als ich sie fragte warum, sagte sie: "Sie haben Angst vor Covid." Sehen Sie, Herr Guterres, die Waffe der WHO ist die Angst, und ich frage mich, ob Sie eine Vorstellung davon haben, wie wirksam das in unserem Teil der Welt ist. Diese Kinder verzichten allein aus Angst auf ein Jahr Ausbildung und eine Mahlzeit pro Tag, die von der Schule angeboten wird.
Vielleicht handelt es sich um eine Pandemie der entwickelten Welt, die von den Entwicklungsländern bezahlt wird? Ich weiß es nicht.
Warum sollten wir für das Wohl von 1102 Gondwana-Mitarbeitern kämpfen, brillanten, schönen, kreativen Namibiern? Warum sollten wir für hunderttausende junge Namibier kämpfen, die ein Zuhause im Tourismus hatten? Ist jemand dafür verantwortlich? Interessiert das überhaupt jemanden?
Dies ist kein Plädoyer für Almosen oder Wohltätigkeit, Herr Guterres. Dies ist kein Plädoyer für Mitleid. Dies ist ein Plädoyer dafür, uns nicht mehr herumzustoßen. Dass die Panikmache aufhört. Dass die Zerstörung aufhört. Dass die Ignoranz aufhört. Wir haben unsere eigene Realität, und wir möchten, dass Sie dies anerkennen und dass Sie unsere führenden Politiker durch Ihre Richtlinien ermutigen, in dieser Realität zu leben und in sie einzutauchen.
Wir müssen anfangen, im besten Interesse der Hunderttausenden von Miriams und Magdas unserer Welt zu handeln, und nicht nur für die Covid-19-Risikogruppen.
Herr Guterres, ich weiß nicht, ob Sie ein religiöser Mensch sind, aber ich möchte Sie bitten, sich das letzte Foto genau anzusehen. Es ist ein Foto, das ich vom Vaterunser auf der Wellblechwand von Miriams kleiner Schule gemacht habe. Ich möchte, dass Sie an die jungen Augen denken, die dieses Gebet jeden Tag beten. Sie werden nicht krank oder sterben an Covid-19, aber sie leiden sehr darunter. Wer erzählt ihre Seite der Geschichte, wer wird ihre Stimme sein? Ich hoffe, dass sie uns eines Tages auch verzeihen werden.
Ich bin jetzt wirklich müde und werde versuchen zu schlafen. Morgen werde ich aufstehen und diese Fragen erneut in Angriff nehmen, hoffentlich mit etwas Energie und Kreativität, zusammen mit dem besten Team auf diesem Planeten.
Um ehrlich zu sein, habe ich immer noch etwas Hoffnung, dass Sie mir ein wenig helfen werden.
Wir werden sehen.
Gute Nacht, Herr Guterres.
Gys
SUBMIT YOUR COMMENT