Manche Menschen haben große Träume, und einige wollen sie entgegen jeder Vernunft unbedingt verwirklichen. Die dabei gemachten Erfahrungen gehören zu den unvergesslichsten ihres Lebens - und inspirieren andere, ihre eigenen Träume zu realisieren.
Genau das war bei einigen Freunden der Fall, die sich in den Kopf gesetzt hatten, in den Tiefen des Fischfluss Canyons die ersten Reifenspuren zu hinterlassen. Sechs Mitglieder des Kapstädter Vespa-Clubs stellten sich dieser Herausforderung, zu der ein Nachbar den Anstoß gegeben hatte. Er gehörte einem Leichtathletikteam an, das gerade von einer Wanderung durch den Fischfluss Canyon zurückgekehrt war und von der anstrengenden Tour erzählte. Die Freunde boten ihm scherzend an, beim nächsten Mal eine ihrer Vespas zu leihen.
Aus Spaß wurde schnell Ernst: Die Freunde hatten kaum Gelegenheit, sich über die gewaltige Aufgabe, die sie sich selbst gestellt hatten, Gedanken zu machen, da begannen sie schon mit ihren Vorbereitungen. Der Fitness zuliebe gingen sie ab sofort zu Fuß zur Arbeit und schoben ihre Vespas die steilen Straßen in den Vororten Kapstadts hinauf statt zu fahren. Sie suchten nach Möglichkeiten, ihre Vespas trocken und unversehrt von einem Flussufer ans andere zu bringen und Steilwände mit Stahlseilen und Winden zu meistern. Zwei Clubmitglieder reisten sogar in den Süden Namibias, um den zweitgrößten Canyon der Welt in Augenschein zu nehmen und die Machbarkeit ihres Vorhabens abzuschätzen. Das Ergebnis: zu neunundneunzig Prozent unmöglich!
Trotzdem reiste das Team unerschrocken mit seinen drei Vespas, genannt Veni, Vidi und Vici (ich kam, ich sah, ich siegte), zu Namibias mächtigem Canyon. Bemalt waren die drei Vespas im Leoparden-, Giraffen- und Zebramuster. Am 9. Juli 1968 machten sie sich an den steilen Abstieg. Es war eine kräftezehrende Mission, Motorroller und Ausrüstung über losen Schotter und Steilwände in den Canyon hinabzuschaffen.
Das Schicksal meinte es nicht gut mit ihnen. Der schwerste Roller, Veni, ging verloren, als ein Hilfsseil riss und er eine Felswand hinunterstürzte. Bei den beiden verbleibenden Vespas entfernten die Freunde die Motoren und trugen sie separat in den Canyon. Für den Abstieg, der in der Regel zwei Stunden dauerte, brauchten die Abenteurer zweieinhalb Tage. Als sie schließlich erschöpft den Canyonboden erreichten, mussten fünf von sechs Teammitgliedern erst einmal verarztet werden. Doch es war ihnen gelungen, Geschichte zu schreiben und die ersten Reifenspuren im weichen Sand zu hinterlassen.
Das war ihnen nicht genug. Sie wollten mit den beiden verbleibenden Vespas den Canyon bis nach AiAis durchqueren und hofften, nach Überwindung von Felsbrocken und tiefem Sand im ersten Teil des Canyons im weiteren Verlauf ein Stück mit ihren Vespas fahren zu können. Also kämpften sie sich weiter vorwärts, mühsam und schmerzlich langsam. Die zweite Vespa ging verloren, als das Schlauchboot bei einer Flussüberquerung Leck schlug und kenterte.
Schließlich forderten Schlamm, Wasser und Staub auch bei Vidi ihren Tribut. Der Motor sprang nicht mehr an, die Freunde mussten die letzte Vespa zurücklassen. Erschöpft und mit schwindenden Vorräten badeten sie noch im heilenden Wasser der heißen Quelle, bevor sie nach neun Tagen über den Notausstieg den Canyon verließen. Die verrosteten Überreste von Vidi sind heute noch auf einem Felsen am Anfang des Fish River Canyon Trails zu sehen, wo häufig Wanderer innehalten und über den seltsamen Anblick staunen.
Ich entdeckte diese Geschichte, als ich an der Wand des Hobas-Campingplatzes die verblasste Fotokopie eines Zeitungsartikels von 1968 sah. Der Titel lautete "Scooters in the Canyon" (Motorroller im Canyon). Ich begann nach den Mitgliedern der Vespa-Expedition zu suchen. Ein Jahr lang dauerte es, bis ich endlich Johnnie Johnson im Pub des Castle Hotels in der Innenstadt von Kapstadt gegenübersaß, um seine Geschichte zu hören. Johnnie war bereits Ende siebzig und hatte nach zwei Schlaganfällen Herzbypässe erhalten, aber sein Geist war so wach wie eh und je. "Das Leben ist nicht lang genug für all die Dinge, die ich tun will", sagte er, "aber bevor ich abtrete, möchte ich noch einmal den Canyon sehen."
Er musste nicht lange warten. Im Jahr 2010 lud ich ihn und zwei seiner Teamkollegen, zu denen er noch Kontakt hatte, zur Eröffnung des neu renovierten Canyon Roadhouse ein. Dort sollten sie ihre Geschichte erzählen und den Film zeigen, den sie von ihrem Canyon-Abenteuer gedreht hatten. Mit der ihm eigenen Lebensfreude hielt Johnnie an diesem Abend länger an der Bar aus als jeder andere. Die letzten Worte, die ich von ihm hörte, als ich in den frühen Morgenstunden ins Bett ging, waren: "Los geht‘s!" Dabei zeigte er mit seinem Gehstock nach oben.
Johnnie erlebt den fünfzigsten Jahrestag seines verrückten Abenteuers leider nicht mehr, doch die Erinnerung bleibt. Als ich ihn zum ersten Mal im Pub in Kapstadt traf, weit weg von der rauen Schönheit des Canyons, hat er mir sein Lebensmotto anvertraut. "Ich will nicht zu früh meinen Hut nehmen, perfekt erhalten und in makellosem Zustand. Ich will lieber seitlich, mit viel Schwung in die Ewigkeit schliddern, verbraucht, staubig, erschöpft und lauthals brüllend: Wow, was für eine Fahrt!"
Aus seinem Erfahrungsschatz habe ich etwas Wichtiges gelernt: dass man mit dem nötigen Ehrgeiz, Engagement, der richtigen Lebenseinstellung und Leidenschaft die meisten Dinge im Leben erreichen kann - auch wenn es zu 99 Prozent unmöglich ist.
Mannfred Goldbeck
Ausführliche Informationen zur Vespa-Expedition in den Fischfluss Canyon 1968 finden Sie hier.
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