Der legendäre Anführer der Witbooi-Namas, Hendrik Witbooi (ca. 1830-1905) hat Tagebuch geführt. In seinem ledergebundenen "Journal" gibt es auch Abschriften von Briefen, Verträgen und Sitzungsprotokollen. Der Weg des Journals von 1884 bis zum Eintrag als UNESCO-Weltdokumentenerbe 2007 ist eine spannende Geschichte.
Eine wichtige Rolle spielten dabei Werner Hillebrecht und seine ehemalige Chefin Ellen Ndeshi Namhila vom namibischen Nationalarchiv und ihre Vorgängerin, Brigitte Lau. Das Nationalarchiv hatte 1989 in seiner Publikationsreihe ARCHEIA die englische Übersetzung des Journals von Witbooi veröffentlicht, 1995 die erweiterte und revidierte Ausgabe. Schon Lau schrieb, dass die Dokumente des "Hoofd-Kapitein", wie er sich laut seines Siegels - mit einem Löwen in der Mitte - nannte, eine rare Kostbarkeit seien.
Der Grund: kaum ein afrikanischer Stammesführer hatte im 19. Jahrhundert seine Erlebnisse, Ansichten, Treffen und Abmachungen schriftlich festgehalten oder gar von seiner Korrespondenz Abschriften anfertigen lassen. Der wirtschaftliche und politische Werdegang Hendrik Witboois und sein Kampf gegen die kaiserliche Kolonialmacht im damaligen Deutsch-Südwestafrika könne anhand seiner Schriften nachvollzogen werden, so Lau.
Die Einträge in Witboois Journal wurden in kapholländischer Sprache in säuberlicher Handschrift von seinen Sekretären gemacht. Witbooi wurde bei einem Gefecht mit dem Hererovolk der rechte Daumen abgeschossen, danach konnte er nur mühsam schreiben und überließ diese Aufgabe daher zumeist seinen Sekretären.
Hendrik Witbooi wurde im südafrikanischen Pella nahe des Oranjeflusses im Nordkap geboren, wo er die Missionsschule besuchte. Er war Nachfahre der Khoisan-Ureinwohner am Kap, die durch europäische Siedlungspolitik nach und nach ihre Gebiete verloren hatten und im 18. Jahrhundert zumeist als Sklavenarbeiter auf Farmen und in Orten der Kapprovinz lebten. Sie wurden auch Orlam (die Besitzlosen) genannt. Einige Orlamgruppen wollten sich aus dieser Situation befreien. Sie organisierten sich Kleidung, Pferde und Waffen und zogen nordwärts, weg von der holländisch-britischen Kolonialregierung und den umherziehenden Trekburen. Das Nordkap und die Gegend nördlich des Oranjeflusses (Gariep), der heutigen Karas-Region Namibias war fast unbewohnt.
Der Witbooi-Clan unter Hendriks Großvater Kido (Kiddo) Witbooi suchte von Pella aus eine neue Heimat. Nach fast 30 Jahren des Herumziehens im Nordkap/Namaqualand ließ sich Kido 1863 mit seiner Gefolgschaft und dem rheinischen Missionar Jacob Knauer an einer Quelle in Kachatsus am Fischfluß nieder. Kido nannte den Platz Gibeon. So heißt dieser Ort noch heute und ist auch weiterhin Stammsitz der Witboois.
Kido Witbooi starb 1875, sein Sohn Moses wurde Clanführer. Nach dessen Tod 1888 übernahm Hendrik die Rolle. Er hatte sich 1868 taufen lassen und war schon 1884 mit einer großen Gefolgschaft aus Gibeon fortgezogen. Bei Honrkranz südlich von Windhoek hatte Hendrik eine neue Siedlung gegründet. 1884 wurde Deutsch-SWA Schutzgebiet der Regierung in Berlin. Witboois Journal Nr.1 - in rotem Leder und 183 Seiten beschrieben - wurde von 1884 bis 1893 geführt. Es wurde bei dem bis heute ungeklärten nächtlichen Angriff der kaiserlichen Schutztruppe unter Landeshauptmann Curt von Francois auf Hornkranz am 12. April 1893 in einer Kiste mit anderen Dokumenten Witboois gefunden und nach Windhoek gebracht. Dort lag die Kiste bis 1925 im Tintenpalast. Seit 1948 befindet sich das Journal im Nationalarchiv und ist dort mit anderen wiedergefundenen Schriften Witboois in einem Tresor untergebracht. Sie dürfen nur mit Sondergenehmigung besichtigt werden.
Witbooi legte nach dem Angriff auf Hornkranz zwei weitere Journale an, sie umfassen die Jahre 1893-1901. Diese beiden Journale gelangten nach Deutschland und wurden erst Anfang der Neunzigerjahre nach Namibia zurückgebracht. Im Oktober 1904 erhoben sich die Witboois und andere Orlam-Namas gegen die deutsche Kolonialmacht, 10 Monate nach Beginn des Herero-Aufstands. Einer Version zufolge soll der deutsche Kaufmann August Wulff die Journale mit anderen Dokumenten aus dem verlassenen Haus eines Witbooi-Untergebenen in Gibeon nach Oktober 1904 gefunden haben. Anderen Quellen zufolge soll Wulff sie aus dem brennenden Haus von Witbooi in Gibeon gerettet haben.
Diese Dokumente hat Wulff 1934 dem Überseemuseum in Bremen verkauft. Das Museum hatte sie anschließend von Experten restaurieren und neu binden lassen. Erst 1996 wurden sie dem namibischen Nationalarchiv übergeben. Das vierte und wohl auch letzte Journal Hendrik Witboois - er selbst kam hochbetagt am 29. Oktober 1905 bei einem Gefecht mit der Schutztruppe nahe Vaalgras ums Leben - soll am 5. Dezember 1905 bei einem weiteren Gefecht nahe Rietmond in die Hände der Schutztruppe gelangt sein. Es gibt nur spärliche Informationen, doch befindet es sich - zumindeste einige Seiten davon - in München in Privatbesitz. Ob und wann diese Journalfragmente je nach Namibia gelangen, ist unbekannt. Der Besitzer hat der Sam-Cohen-Bibliothek in Swakopmund Fotokopien davon geschickt.
Das Nationalarchiv hat unter Federführung von Ellen Namhila und Werner Hillebrecht im Juni 2004 bei der UNESCO beantragt, die ersten drei Journale Witboois in das Weltdokumentenerbe aufzunehmen. Das Weltdokumentenerbe ist ein Verzeichnis im Rahmen des 1992 von der UNESCO (UN Educational, Scientific and Cultural Organisation) gegründeten Programms 'Gedächtnis der Welt' zum Erhalt des dokumentarischen Erbes der Menschheit. Wertvolle Buchbestände, Handschriften und Dokumente sollen so bewahrt werden.
Namibias Antrag war erfolgreich. Seit 2007 sind die Witbooi-Tagebücher, auch 'Hendrik Witbooi Papers' genannt, im Weltdokumentenerbe eingeschrieben und digital im Internet zu lesen. Im Mai 2014 erschien ein Nachdruck des 1.Journals in original Kapholländisch in Kapstadt mit Briefen bis September 1894. Zum ersten Mal wurde es 1929 gedruckt mit einem Vorwort des namibischen Pioniers Gustav Voigts, der Witbooi persönlich gekannt hatte.
Die bei dem Überfall 1893 auf Hornkranz erbeutete Bibel von Hendrik Witbooi gelang Jahre später in das Linden-Museum in Stuttgart. Es gibt Bemühungen, die Bibel wieder in den Familienbesitz der Nachfahren Witboois zu übergeben.
Brigitte Weidlich