Den meisten Besuchern der beliebten Küstenstadt Swakopmund ist die alte Dampflokomotive namens „Martin Luther“ bekannt, die am Stadtrand von einer Glaskonstruktion umschlossen steht. Sie wurde im späten 19. Jahrhundert nach Namibia eingeführt, um Fracht zu transportieren, die per Schiff ankam und durch die Namib-Wüste ins Landesinnere gelangen sollte. Die beschwerliche, 100 km lange Strecke über Land war eine Herausforderung für Ochsenwagen, die bis hin zur Inbetriebnahme der Eisenbahn die einzige Möglichkeit zur Beförderung schwerer Lasten war.
Vor kurzem entdeckte ich, dass der Ur-Ur-Onkel eines Kollegen, Max Corleis, im Ochsenwagengeschäft tätig war und damals seine Güter per Dampflokomotive transportiert hatte. In seinen Notizen hielt Max fest, wie er zufällig zuerst in Hamburg einen gewissen Edmund Troost traf und dann wieder auf dem Dampfschiff „Leutwein“. Troost hatte von 1894 bis 1896 bei der Schutztruppe im damaligen Deutsch-Südwestafrika gedient und den Rang eines Leutnants erreicht. Als finanziell unabhängiger Mann konzentrierte er sich auf selbstfinanzierte Innovationen, von denen viele von der Kolonialregierung auf Eis gelegt wurden. So soll er 1904 auf eigene Kosten Dieselmaschinen eingeführt haben. Aber bereits 1896 importierte er das erste Dampffahrzeug. Auf dem Schiff zeigte Troost stolz die Zeichnungen der neuen Dampflokomotive und erzählte von seinen Plänen zur Verbesserung des Transports auf der für die Ochsen gefährlichen Strecke von der Küste ins Inland. Viele starben auf der beschwerlichen Route, weil es kaum Weideland und Wasser gab. Die Dampflokomotive und ihre Wagenanhänger waren mit breiten Rädern ausgestattet, damit sie nicht im Sand versinken. Jeder der Anhänger sollte die Fracht von fünf Ochsenwagen transportieren. Troosts Dampflokomotive bot theoretisch die ideale Lösung, die sandige Strecke durch die Wüste von Swakopmund aus zu bewältigen.
Die dampfgetriebene Zugmaschine wurde in Leeds in Großbritannien von J & H McLaren gebaut, über die McLaren-Vertretung FR Dehne in Halberstadt, Deutschland, gekauft und letzendlich von Hamburg nach Swakopmund verschifft. (Eine andere Quelle besagt, dass sie von der Fowler Company in Kalifornien hergestellt wurde.) Aufgrund ihres Gewichts von 14 Tonnen war es unmöglich, die Dampfzugmaschine in Swakopmund zu entladen, somit wurde sie bis zum Hafen von Walvis Bay transportiert und dort entladen. Unterdessen war Troost in Kapstadt beschäftigt und kehrte erst einige Monate späte nach Deutsch-Südwestafrika zurück. Während dieser Zeit kehrte der Lokführer, der für den Betrieb der Lokomotive zuständig war, nach Europa zurück. Es dauerte drei Monate, bis die Lokomotive die 30 km nach Swakopmund durch dicken Dünen- und Strandsand zurücklegte, unter Verbrauch großer Mengen Kohle und Wasser. Bald nach ihrer Ankunft trat sie ihre Jungfernfahrt ins Landesinnere über Nonidas nach Heigamchab an. Dort sollten die Güter auf Ochsenwagen umgeladen werden. Damit bliebe den Ochsen der schlimmste Teil der Reise durch die Wüste erspart.
Während Max in Heigamchab auf die Zugmaschine wartete, gewahrte eine schwarze Rauchfahne, die aus dem Wüstensand aufstieg. Seine Arbeiter schrien vor Entsetzen. Als die Lokomotive mit ihren drei Anhängern sichtbar wurde und allmählich näher kam, war der Anblick so ungewohnt und erschreckend, dass einer seiner Arbeiter vom Ochsenwagen sprang und davonlief. Die anderen wären bald gefolgt, wenn Max nicht angefangen hätte zu lachen und erklärt hätte, dass es sich bei der Erscheinung nicht um ein Gespenst, sondern um eine Dampfmaschine aus Deutschland handelte, die seine Waren durch die Wüste gebracht hatte. Er nannte sie „Dampfochse“, und der Name blieb.
Es siegte schließlich die Neugierde aller und sie wagten es, sich dem ungewöhnlichen Anblick zu nähern. Die Reise war ein Erfolg, Max erhielt seine Fracht und konnte seine Tiere sogar in der Wüste tränken. Bedauerlicherweise würde der Dampfochse seine Fracht nach kurzer Lebensdauer nur noch einmal durch die Wüste bringen. Der ursprüngliche Lokführer und Mechaniker war nach Deutschland zurückgekehrt, bevor Troost seine Maschine übernommen hatte. Es gab keinen anderen Mechaniker, der in der Lage war, die Lokomotive zu reparieren. Als Monate später ein Experte aus Deutschland eintraf, waren die Schäden nicht mehr rückgängig zu machen und einige wesentliche Teile waren entfernt worden. Troost war so verärgert, dass er die Lokomotive dort stehen ließ, wo sie stehen geblieben war, einige Kilometer östlich des Zentrums von Swakopmund.
Während eines Stadtaufenthalts von Max in Swakopmund unterhielt dieser sich mit Anwohnern im Hotel Fürst Bismarck, als ein Dr. Rhode die Runde fragte, ob sie gehört hätten, dass der Dampfochse Martin Luther getauft worden war. Als sie antworteten, dass dies nicht der Fall sei, lachte er und antwortete: „Denn jetzt kann auch er sagen: ‚Hier stehe ich. Ich kann nicht anders!‘“ – ganz wie der protestantische Reformator Martin Luther zu sagen pflegte: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.“ Der Arzt erzählte seinen Witz weiterhin jedem, der ihn besuchte. Bald war der Dampfochse also als „Martin Luther“ bekannt.
Der Ausbruch der Rinderpest erreichte das Land 1897. Der Ochsenwagentransport wurde dadurch stark beeinträchtigt. Es entstand in kürzester Zeit eine Schmalspurbahnstrecke von Swakopmund, die 1899 Karibib und 1902 Windhoek erreichte. Der Gebrauch von Dampfzugmaschinen wurde somit überflüssig.
Der „Martin Luther“ blieb über siebzig Jahre lang am Rande der Stadt und wurde ein Klotz aus rostendem Eisen, bis der Stadtrat von Swakopmund 1973 beschloss, ihn zu restaurieren und mit einer neuen Rauchkammer und neuen Vorderrädern auszustatten. In den Jahren 2003/2004 restaurierten Studenten des Namibian Insitute for Mining and Technology (NIMT) die Zugmaschine und bauten den Motor so weit wie möglich originalgetreu nach. Die Dampflokomotive wurde zum Nationaldenkmal erklärt und eine Glaskonstruktion um sie herum gebaut, um sie vor dem korrosiven Küstennebel zu schützen.
Obwohl seine Wüstenfahrten nur von kurzer Dauer waren, ist der „Martin-Luther-Dampfoschse“ zu einem historischen Denkmal geworden, da er für kurze Zeit den unzureichenden Transport in dem schwierigen Gelände vor mehr als einem Jahrhundert überbrückte. Hinter all dem steht vielleicht der Traum eines Visionärs, der es auf sich genommen hatte, im Namen der Zivilisation und des Fortschritts die Not zu lindern, die er erlebte.
Padlangs - Manni Goldbeck