Noch wenig beachtet, von Experten bewundert, teilweise bereits beschädigt und zum größten Teil noch unerforscht: die größten Flechtenfelder außerhalb der arktischen und subarktischen Regionen sind in der Namib-Wüste in Namibia zu finden. Auf den endlosen Schotterflächen wächst an vielen Stellen auf fast jedem Steinchen eine Flechte. Manche auffallend orangegelb, andere dunkelgrün oder sandfarben. Bestimmte Gegenden sind von hellgrünen oder rostbraun-orangenen, buschigen Flechten übersät, und auf lockerem gipshaltigem Boden wachsen krustenähnliche Flechten. Im nördlichen Teil des Namib-Naukluft Parks ist in Senken und Mulden neben der Schotterstraße dunkles, fast schwarzes Pflanzenmaterial zu sehen, das vom Wind dorthin geweht wurde. Auch das sind lebende Flechten. Die Namib-Wüste lebt, obwohl es auf den ersten Blick nicht so aussieht.
Wer mit dem Fahrzeug von der Straße abweicht und über diese leblos wirkenden Flächen fährt, zerstört nicht nur unzählige Flechten, die oftmals nicht sofort zu erkennen sind, sondern hinterlässt auch eine unübersehbare hässliche Narbe in der Landschaft, die noch Jahrzehnte lang zu sehen ist. Wasser könnte diese Narbe verwischen, aber in der Namib regnet es fast nie. Die durchschnittliche Niederschlagsmenge liegt bei 15 mm pro Jahr. Die lebenswichtige Feuchtigkeit erhalten die Flechten und andere Lebewesen durch Nebel, der nachts vom Atlantischen Ozean bis zu 60 Kilometer weit in die Wüste zieht.
Flechten sind eine Symbiose von Schlauchpilzen und Grünalgen – zwei unterschiedliche Organismen, die zum gegenseitigen Nutzen zusammenleben. Wegen des geringen Niederschlags können sich die Flechten in der Namib dominierend entwickeln, obwohl es auch zahlreiche Pflanzen gibt, die sich den harten Bedingungen der Wüste angepasst haben.
Die verschiedensten Flechtenarten bevölkern aber nicht nur die Schotterflächen der Namib, sondern auch unzählige Hügel und Felsen. Nur in den Dünen sind sie völlig abwesend. Meist sind die Flechten an der Südwestseite der Felsen, Steine und Hügel zu finden, denn aus dieser Richtung treibt der meist vorherrschende Südwestwind den Nebel und damit die Feuchtigkeit landeinwärts. Das kostbare Nass kondensiert an den ihm zugewandten Oberflächen.
Flechten sind den harten Bedingungen der Wüste optimal angepasst. Laut Prof. Volkmar Wirth können sie mit ihrer gesamten Oberfläche Wasser direkt aus der Atmosphäre wie ein Schwamm aufnehmen und physiologisch aktiv werden, aber auch fast ausgetrocknet der gnadenlosen Hitze trotzen, indem sie physiologisch inaktiv bleiben. Flechten wachsen pro Jahr nur wenige Millimeter.
Wie Prof. Wirth erklärt, sind in der Namib im „Normalfall“ Flechten die ersten Organismen, die eine Fläche, einen Stein oder einen Hügel besiedeln. Prof. Wirth war seit seinem ersten Besuch 1986 bereits neun Mal in Namibia, um die hiesigen Flechten zu erforschen. Von 1975 bis 2001 war er in Stuttgart Botaniker am Staatlichen Museum für Naturkunde und danach von 2001 bis 2008 Direktor des Staatlichen Museums für Naturkunde in Karlsruhe. Zudem war er von 1994 bis 2007 Honorarprofessor an der Universität Hohenheim. Der begeisterte Lichenologe vermutet, dass es allein in der Namib 200 bis 250 Flechtenarten gibt, von denen unzählige noch nicht bestimmt worden sind.
Dirk Heinrich