Namibia hat nach 25 Jahren endlich wieder Edelmetall bei den Olympischen Spielen gewonnen und die ganze Nation freut sich über die Silbermedaille im 200m Lauf der erst 18jährigen Christine Mboma. Ihre gleichaltrige Teamkollegin Beatrice Masilingi lief im 200m Finale in Tokio ihre persönliche Bestzeit und erreichte den sechsten Platz. Ein Märchen wurde wahr. Zwei afrikanische Teenager vom Lande, die aus ärmlichen Verhältnissen stammen und in Lehmhütten aufgewachsen waren, hatten sich in atemberaubendem Tempo an die Weltspitze katapultiert.
Die namibischen Medien hatten ab Beginn der Olympischen Spiele mit vielen Berichten auf sämtlichen Plattformen die Einwohner des Landes binnen weniger Tage zu Olympia-„Experten“ gemacht. Immerhin hatten sich elf Sportler für Tokio qualifiziert, darunter drei deutschsprachige (Maike Diekmann, Vera Looser und Philip Seidler).
Die ganze Nation fieberte mit, als nachmittags namibischer Zeit im Fernsehen und in sozialen Medien das spannende 200m Finale live verfolgt werden konnte. Der digitale Jubel war grenzenlos, als die beiden inzwischen liebevoll „golden girls“ genannten Sprinterinnen sich nach dem beeindruckendem Finish – umhüllt von der Nationalflagge - bescheiden lächelnd den Fotografen und den Zuschauern stellten. Eine Olympia-Medaille am 80. Geburtstag von Präsident Hage Geingob – ein schöneres Geschenk hätte es nicht geben können.
Die spontanen Glückwünsche aus Namibia nach Tokio per Twitter, Instagram, Facebook, Telegram und dergleichen waren überwältigend. Präsident Geingob twitterte sofort seine Glückwünsche, lokale Firmenbosse boten Sponsoring an. Egal ob Putzfrau, Sicherheitskraft, Sekretärin oder Kabinettsminister, alle sprachen stolz von der Olympiamedaille.
„Christine Mboma hat unsere Nation vereint, wir alle haben gewonnen,“ schrieb ein Damara-sprechender namibischer Fan auf Facebook, „Dank auch an den Trainer Henk Botha, wer hätte 1990 zu Namibias Unabhängigkeit gedacht, dass die Hoffnung, 31 Jahre später werde es egal sein, aus welcher Bevölkerungsgruppe man stammt, sich in Tokio verwirklicht.“
Beide Sprinterinnen sind noch Schülerinnen und besuchen seit knapp zwei Jahren als Stipendiatinnen eine private Schule in Grootfontein, mit Schwerpunkt landwirtschaftliche Ausbildung.
Der vom Jugend- und Sportministerium und der Sportkommission organisierte Empfang am internationalen Hosea-Kutako-Flughafen bei Windhoek am 10. August war „heldenhaft“, wenn auch mit einer begrenzten Anzahl Fans wegen der Covid-19 Vorschriften. Eine Tanzgruppe der Kavango-Region war mit Trommlern vor Ort, die Polizeiblaskappelle spielte auf und gleich mehrere Minister hielten Reden.
Blumen und kleine Geschenken wurden an die Athlet/Innen überreicht. Es folgte ein Autokorso durch die Windhoeker Innenstadt, die Olympioniken waren auf zwei knallrote offene Busse verteilt, der Korso fuhr bis Katutura. Es folgte die obligatorische Pressekonferenz und um 17h30 hieß es plötzlich: „Empfang und Dinner im Präsidialamt mit dem Staatsoberhaupt!“ Präsident Geingob ließ sich strahlend die Silbermedaille von Mboma zeigen.
Gleich am nächsten Tag flogen Botha und die beiden Sprinterinnen dank eines vermittelten Privatflugs nach Grootfontein. Offiziere des Streitkräfte und der Polizei salutierten auf dem Rollfeld und brachten die Ehrengäste ins Bürgermeisteramt, wo es einen kleinen Empfang gab mit anschließendem umjubelten Auto-Korso durch den kleinen Ort. Ein Blitzbesuch bei den Schulkameraden und dann mussten sie zurück nach Windhoek, denn schon am 14. August ging es nach Nairobi zur Leichtathletik-U20-Weltmeisterschaft.
Inzwischen überschlugen sich einige staatliche Firmen und auch die private Geschäftswelt mit Sponsoring-Angeboten für Mboma und Masilingi. Das Jugend- und Sportministerium verfassten gemeinsam einen Aufruf, ihnen die Angebote zu schicken, damit ein Gremium alles erfassen und sortieren könne, um Überschneidungen zu vermeiden. Die beiden Läuferinnen würden dann jeweils beraten werden.
Mboma und Masilingi haben inzwischen je einen internationalen Werbevertrag, ihre weitere Ausbildung ist vorerst finanziell gesichert und die Stadtverwaltung von Rundu will den beiden je ein Wohngrundstück schenken. Es wurde auch angeboten, in den Heimatdörfern der beiden herausragenden Sporttalente ein Backsteinhaus für ihre Familien zu bauen.
Mboma und Masilingi sollten ursprünglich in der 400m Disziplin antreten, doch dann kam Anfang Juli der Schock. Was ein Routine-Test für die Qualifikation sein sollte, brachte das überraschende Ergebnis: Die natürlichen Testosteron-Spiegel der beiden Mädchen waren zu hoch! Was nun? In Namibia machten sich Enttäuschung und Empörung breit.
Trainer Botha, der auch väterlicher Mentor der beiden Teenager ist, beriet sich mit der Sportkommission und dem Jugend- und Sportministerium. Aufgeben galt nicht. „Wir disponieren um, die Mädels werden für die 200m Strecke angemeldet, da gibt es keine Testosteron-Limits“, teilte das Jugend- und Sportministerium mit.
Auf Regierungsebene hatte Namibia auch sogleich angekündigt, die Testosteron-Vorschrift anzufechten.
In nur knapp drei Wochen mussten die namibischen Sprinterinnen sich auf die 200m Disziplin umgewöhnen, mit herausragendem Erfolg. Christine Mboma schrieb namibische Sportgeschichte, weil sie die erste weibliche Olympionikin des Landes ist, die eine Medaille gewann. Es soll hier aber der Vollständigkeit halber erwähnt werden, dass bei den Paralympischen Spielen 2012 in London Johanna Benson ebenfalls Sportgeschichte schrieb, da sie auf der 200m Strecke die erste Goldmedaille für Namibia gewann. Sie holte auch noch Silber im 100m Lauf.
Christine Mboma wurde in einem kleinen Dorf etwa 120km östlich von Rundu in der Region Kavango-Ost als älteste von drei Töchtern geboren. Der Vater verließ die Familie als sie noch ein Kleinkind war, die Mutter war körperlich behindert und starb bei der Geburt des vierten Kindes, das auch nicht überlebte. Mboma war damals 13 Jahre alt.
Sie wuchs im Gehöft ihres jetzt 81-jährigen Großvaters auf. Als sie nach der Grundschule auf die Oberstufe in Rundu wechselte, wurde ihr sportliches Talent bei Schulsportveranstaltungen entdeckt. Sie nahm an regionalen Wettbewerben teil und rannte barfuß. 2019 wurde Henk Botha auf sie aufmerksam und bot ihr nach Absprache mit ihrer Familie ein Stipendium an der Privatschule in Grootfontein an, mit der er verbunden ist aber auch Sporttrainer ist.
Beatrice Masilingi stammt ursprünglich aus der Sambesi-Region, wuchs aber bei ihrer Großmutter in Rundu in Kavango-Ost auf, die sich seit kurz nach der Geburt um sie kümmerte. Auch Beatrice nahm an Leichtathletik-Veranstaltungen teil und rannte immer barfuß. 2018 erhielt sie ihre ersten Sportschuhe als Geschenk. Bei einer Schulsportmeisterschaft im März 2019 wurde Botha auf sie aufmerksam und bot Beatrice und ihrer Großmutter ein Stipendium für die Privatschule in Grootfontein an.
„Silber in Tokio ist ein schöner Erfolg“, sagte Namibias erster Olympiateilnehmer Frank Fredericks in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Nampa. „Hoffentlich dauert es nicht wieder 25 Jahre, bis Namibia die nächsten Medaillen gewinnt werde“ sagte er. Fredericks hatte auch einen guten Rat für Mboma und Masilingi. „Sie täten gut daran, alle Sponsorships und Verträge sorgfältig abzuwägen und auch mit möglichen Einnahmen vernünftig umzugehen.“
Namibia war zum ersten Mal 1992 bei Olympia vertreten. Frank Fredericks hatte sich damals als einziger Sportler qualifiziert. In Barcelona gewann er 1992 die Silbermedaille im 100m-Lauf sowie Silber für 200m. Bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta gewann er wieder Doppelsilber über 100m und 200m.
Brigitte Weidlich